12 Jahre Composer in Residence

Frank Kämpfer

12 Jahre Composer in Residence.
Kooperationen zwischen der Kunst-Station Sankt Peter und dem Deutschlandfunk

Péter Kőszeghy – UTOPIE XV „crystal“ UA: 14.10.2009
Luís Antunes Pena – Eyjafjallajokull UA: 10.10.2010
Joanna Wozny – air balance UA: 9.10.2011
Samir Odeh-Tamimi – chorís ónoma UA: 7.10.2012
Jamilia Jazylbekova – Grün ist des Lebens goldner Baum UA: 6.10.2013 Martin Schüttler – index [St. Peter] UA: 5.10.2014
Jung-eun Park – Pil-Yeon UA: 4.10.2015
Anna Korsun – auelliae UA: 2.10.2016
Eres Holz – MACH UA: 1.10.2017
Julián Quintero Silva – Unterholz UA: 16.8.2019
Oxana Omelchuk und Simon Rummel – Orgellandschaft UA: 31.7.2020 
Żaneta Rydzewska – Ausserhalb der Zeit UA: 2.7.2021
Tobias Tobit Hagedorn – Folgen UA: 2.7.2021

Ich schließe die Augen und höre. In diesem Fall zunächst nicht die Orgel, sondern vielmehr den Raum. Die steinerne Sakralarchitektur arbeitet – es knistert, es knackt, eine Sirene klingt von sehr weit und ich höre den Vorraum, wo am Mischpult zuweilen der Tonmeister sitzt. Aber es ist nicht John Cage, der die Lebensumgebung in seine Musik einlässt. Anna Korsuns halbstündige Arbeit auelliae erkundet den Aufführungsort. Unmerklicher Schall, kaum lauter als Luft, misst ihn aus. Bestürzende Korrespondenz: ein Trümmerfeld, still schwebend über den Besuchern dieser orgel-mixturen 2016. Es handelt sich um Achim Freyers ökologisch inspirierte Installation … und ein Rauch steigt auf. Sie besteht aus zahllosen verkohlten Holzstücken, die sich, abgehängt von der Decke des Raums, hoch über den Köpfen der Hörenden drehen, zum Stillstand gelangen oder scheinbar ohne jeden Impuls ihre stumme

Eigenbewegung aufnehmen. Trümmer eines Himmelskörpers, asso- ziiere ich beim Blick Richtung Himmel. Ich weiß, dass ich in einem Theaterstück bin, nicht auf dem Berg Sinai. Die Szenerie, so scheint es, verleiht der Komposition Referenz, ich möchte fast sagen: Sinn und Gehalt. Äonengleiche Zeitdauer spricht aus dieser Symbolik; Gott ist …Gravitation. Der Uraufführungsinterpret arbeitet beinahe mit Nichts. „Aus reinen Luftgeräuschen der Winddrosseln entwickelt Dominik Susteck einen zeitlupenhaften Verdichtungsprozess, der Ligetis Volu- mina alle Ehre macht“ – wird es über die Aufführung später in einer Fachzeitschrift heißen (Wieschollek 2019).

Agierte die Orgel im Oktober 2016 beim Werk der gebürtigen Ukrai- nerin Anna Korsun gewissermaßen am Rande des Hörbaren, so hatte sie vier Jahre zuvor höchst apokalyptisch geklungen. Samir Odeh-Tamimi, Palästinenser mit israelischem Pass und zuhaus in Berlin, verlangte in seinem Stück chorís ónoma, einen höchst aufstörenden Klanglärm zu entfesseln, der wie ein alles niederwalzender Tsunami durch den Kirchraum braust. Der Portugiese Luís Antunes Pena, der in Köln lebt, hatte für sein Stück Eyjafjallajokull eine klanglich monochrome Klang- welt notiert – ich erinnere mich, dass es mir wie eine vertonte graue Eiswüste klang. In Péter Kőszeghys UTOPIE XV „crystal“ hörte ich den überbordenden Rausch eines orthodoxen Gottesdiensts; der in Berlin und Budapest beheimatete Komponist war 2009 unser erster Composer in Residence. Jamilia Jazylbekova, die in Bremen lebende Kasachin, ließ die Orgel in Grün ist des Lebens goldener Baum höchst vorsichtig, ja geradezu tastend atmen. Bei Martin Schüttlers index [St. Peter] war jeglicher Klang zu verbalen Datenangaben hin reduziert und schließlich brachte der polnisch-israelische Komponist Eres Holz nach beinahe zehn Jahren erstmals wieder traditionellere Orgelklänge ins Spiel.

Dominik Susteck, der Mann an den Tasten (man sollte besser sagen: am Schaltpult), der für die Uraufführungen aller dieser neuen Werke einstand, vermochte es, an der Orgel für Neue Musik in der Kölner Jesuitenkirche Sankt Peter in jedem mixturen-Jahrgang, den ich bisher erlebte, neue Klangsprachen zu finden. Das finde ich an ihm ungeheuer bemerkenswert – zumal seine künstlerische Vielgestalt am Instrument nicht nur die orgel-mixturen, sondern alle unsere CD-Produktionen, diverse Forums-Konzerte, seine unvergesslichen Improvisations- Abende und nicht zuletzt seine eigenen Orgelkompositionen zu etwas sehr Eigenem, Besonderen zu machen vermochte. Und bis heute zu machen vermag.

Vorgestellt wurde mir Dominik Susteck beim Kölner Festival klang. körper im Frühsommer 2008. Die im selben Jahr folgende Aufzeichnung seines virtuosen Ausfantasierens von Stockhausens Tierkreis war unsere erste Zusammenarbeit. Was Susteck damals der Orgel entlockte, klang, als wäre es in einem elektronischen Studio entstanden. Oder, wie Eres Holz sagt, an einem „Meta-Synthesizer“. Ich bot den Mitschnitt dem Label WERGO an – Rolf W. Stoll war begeistert und es begann eine bis heute währende Studioarbeit, bei der die Kirche Sankt Peter, der Deutschlandfunk und Speziallabels Neuer Musik Koproduktionspartner waren. Zwölf Compact Discs kamen seither auf den Markt, und haben aus meiner Sicht hier eine wichtige Leerstelle gefüllt: zeitgenössische Musik auf einer Orgel, die nicht nach Romantik klingt, die heutige Gegenwart klanglich zu fassen, widerzuspiegeln vermag. Drei dieser CDs ehrte die Deutsche Schallplattenkritik mit Vierteljahrespreisen, zweifellos noch weitere hätten eine Ehrung verdient.

Der Interpret, seit 2007 im Amt als Organist in Sankt Peter, wirkte offen und unkonventionell, seine Konzerte waren auf hohem Level beglückend, sein Potenzial am Instrument schien und erwies sich als wirklich enorm. Die Förderung, die ich ihm anbieten konnte, entfaltete sich mit der Zeit zu einer vielgestaltigen Partnerschaft. Neben der

Koproduktion von hochkarätigen Studioaufnahmen für Labels wie WERGO und kreuzberg records lag es nahe, den Organisten, sein Inst- rument und die Kirche Sankt Peter in mein Kölner Forum neuer Musik einzubeziehen. Insbesondere die Festival-Jahre 2012 bis 2019 waren von mir bewusst auf politische Hintergrundthemen bezogen. Konkret hieß das, sich mit aktuellen Diskursen über Postkolonialität, Anthropozän, Migration, Krieg und Männlichkeit zu befassen. Dominik Susteck erkundete in diesen Zusammenhängen das Orgelschaffen namhafter Komponist:innen wie Mauricio Kagel, Adriana Hölszky, Hans Joachim Hespos, John Cage und Toshio Hosokawa, Gabriel Iranyi, Isang Yun und Younghi Pagh-Paan. In meinem Selbstverständnis agierten wir in jenen Jahren zu dritt: Mit dem Deutschlandfunk, der Kirche Sankt Peter und der Kölner Musikhochschule widmeten sich drei Insti- tutionen der Medien, der Religion und der (musikalischen) Bildung einander ergänzend Fragen von gesellschaftlich wachsender Relevanz. Ich danke Pater Werner Holter und Pater Stephan Kessler, dass nicht zuletzt sie in Sankt Peter den dafür nötigen Freiraum gewährten.

Es bot sich natürlich ebenso an, zu Sendezwecken Konzerte bei den von Dominik Susteck kuratierten jährlichen Kölner orgel-mixturen aufzuzeichnen. Schnell entstand dabei die Idee, im Miteinander von Kirche und Rundfunkanstalt auch konkret das Entstehen neuer expe- rimenteller Werke zu fördern. Den jeweiligen Composer in Residence wählten Dominik Susteck und ich gemeinsam; das Café Woyton in der Fußgängerzone in der Nähe vom Kölner Neumarkt war unser „Tagungszentrum“. Viele Projekte nahmen hier ihren Anfang. Für den „Composer“ gab es drei zentrale Kriterien: die Bereitschaft, sich konkret auf das Instrument in Sankt Peter zu beziehen, es kennen zu lernen und künstlerisch innovativ auszuloten sowie ein besonderes Verhältnis zu Deutschland mitzubringen. Selbstredend sollte der Auftrag für die musikalischen Urheber:innen schaffensbiographisch sinnvoll sein – sie oder er sollten der jüngeren Komponistengeneration angehören und der Mitschnitt des neu entstandenen Werks musste im Deutschlandfunk sendbar sein. Inklusive eines Deutschlandfunk-Auftrags an Dominik Susteck als Komponist wurden so zwölf neue Werke initiiert, urauf- geführt, aufgezeichnet und – zumeist von Sendeautor Ingo Dorfmüller kommentiert – im Deutschlandfunk erstausgestrahlt. Vorliegende Publikation hat diese Förderung in ihre Gesamtzusammenhänge gestellt.

Jüngere Künstler zu fördern bedeutet für mich: Vertrauensvorschuss zu geben, selbst zurückhaltend zu bleiben, fürsorglich zu steuern und nachzujustieren – je nach Potenzial und Persönlichkeit des Gegenübers. Im Laufe der Jahre wurde mir deutlich, dass diese Förderung neuer Orgelmusik stets auch immer eine doppelte war. Das Entstehen neuer Werke experimenteller zeitgenössischer Orgelmusik aus dem Geist jüngerer europäischer Künstler:innen erwies sich stets auch als neue Herausforderung für den uraufführenden Spieler. Von Projekt zu Projekt konnte ich seine Entwicklung erleben, ab und an auch befördern. Als Organist, Kurator und Veranstalter, als CD-Künstler und Partner des Forums neuer Musik, als Komponist, und neuerdings auch als Verleger und Label-Inhaber ist Dominik Susteck in seiner Kölner Zeit zweifellos zu einer vielgestaltigen Persönlichkeit im Musikbetrieb ausgewachsen. Der Deutschlandfunk als stabiler Partner hat dabei eine nicht ganz unbedeutende Rolle gespielt. Man darf gespannt sein, wohin es ihn zukünftig treibt. Gestaltungsfreiraum ist jedenfalls eine wichtige Bedingung für ihn, um künstlerische Visionen zu realisieren. Deshalb … wie habe ich ihn korrekter Weise stets dem Publikum gegenüber anmoderiert … bei seinen Konzerten beim Forum neuer Musik: „Lassen Sie jetzt einfach los, vertiefen Sie sich – der Organist bestimmt den Beginn des Konzerts.“