Interpretation als Komposition. Der Organist Dominik Susteck im Gespräch mit Stefan Drees.

Dominik Susteck (*1977), Organist an der Kunst-Station Sankt Peter Köln, hat sich während der vergangenen Jahre mit seinen CD-Veröffentlichungen als wichtiger Interpret zeitgenössischer Orgelmusik etabliert. Das nachfolgende Gespräch fand am 9. Februar 2015 in Köln statt. Der Text erschien erstmals in: Seiltanz. Beiträge zur Musik der Gegenwart 10, April 2015, S. 42-46.

Dominik, welchen Stellenwert nimmt die Orgel in der zeitgenössischen Musik ein? Wie groß ist überhaupt das Repertoire an jüngeren Werken und wo würdest du wichtige historische Wegmarken der letzten Jahrzehnte sehen?

Die Orgel ist ein Randinstrument, weil sie in erster Linie in der Kirche und selten im Konzertsaal steht. Das bedeutet, dass es bei der Entstehung Neuer Musik immer auf einen konkreten Auftraggeber und eine konkrete Situation ankommt. Mittlerweile gibt es trotzdem eine Menge zeitgenössischer Musik für Orgel. Daniela Philippi hat darüber vor einigen Jahren einen schönen Überblick gegeben.

Die drei legendären Werke von György Ligeti – Volumina (1961–62) –, Bengt Hambraeus – Interferenzen (1961–62) – und Mauricio Kagel – Improvisation ajoutée (1961) – bildeten in den frühen 1960er Jahren eine historische Zäsur, die die Orgel in den Blickpunkt der freien zeitgenössischen Musik rückte. Daraufhin haben viele Komponisten wenigstens einmal in ihrem Leben für Orgel komponiert. Meistens blieb es leider bei diesem einen Mal, deshalb gibt es viele Einzelstücke, die sich schlecht mit anderen Werken kombinieren lassen.

Ist neue Musik für Orgel heute noch im liturgischen Kontext lokalisiert oder vollzieht sich ihre Entstehung mehr oder weniger losgelöst davon? Oder anders gefragt: Wie stellt sich das Verhältnis zwischen Kirche und neuer Musik dar?

Die katholische Kirche sieht sich eher als Institution, in der Kultur nicht Gottesdienst ist, im Unterschied zur evangelischen Kirche, wo man immerhin sagt, dass ein geistliches Konzert auch Gottesdienst sein kann. Im Klartext bedeutet das: In der katholischen Kirche gibt es zunächst einmal keine großen Bewegungen und keine großen Gelder für zeitgenössische Musik, und für die Orgel schon gar nicht. Aber natürlich haben sich in der jüngeren Vergangenheit immer wieder einzelne Festivals um die Orgel verdient gemacht, so beispielsweise die »Internationale Orgelwoche Nürnberg« (ION), für die Adriana Hölszkys Komposition und ich sah wie ein gläsernes Meer, mit Feuer gemischt entstanden ist. Oder es gab 1976 bis 1996 die von Peter Bares initiierte »Internationale Studienwoche für Neue Geistliche Musik« in Sinzig, für die jedes Jahr neue Kompositionen geschrieben wurden, und die wir mit der Reihe »orgel-mixturen« an der Kunst-Station Sankt Peter fortsetzen. Tatsächlich haben wir an Sankt Peter ein Umfeld, das davon geprägt ist, dass zunächst die zeitgenössische Kunst und später die Musik in den spirituellen Kontext integriert wurden. Pater Friedhelm Mennekes hat 1987 die Kunst-Station Sankt Peter gegründet und damit den Kirchenraum für zeitgenössische, freie Kunst – für ganz abstrakte Werke – geöffnet. Bewusst distanzierte sich Mennekes von der funktionalen Kirchenkunst. Der Komponist Johannes Fritsch wurde Kurator der Konzerte. 1992 gelang es Pater Mennekes, Peter Bares als Organisten für zeitgenössische Musik zu gewinnen. Mit ihm hielt die zeitgenössische Musik Einzug in die Messe. Die Gemeindelieder werden seitdem reduziert, während der freien Improvisation und der zeitgenössischen Musik viel Platz eingeräumt wird. Bares hat sogar ein eigenes zwölftöniges Gesangbuch geschrieben. Es ist eine Alternative zu den Entwicklungen an anderen Orten gedacht, wo das Neue Geistliche Lied den Gottesdienst beherrscht. Dort wird mit Unterhaltungsmusik versucht, der Liturgie einen vermeintlich modernen Anstrich zu verleihen. Bares und Mennekes haben hingegen betont: »Wir wollen die Hochkultur, wir wollen – wie es Jahrhunderte lang gewesen ist – in der Kirche nur das Beste vom Besten. Und es ist gleichgültig, ob du es verstehst oder nicht: Das Verständnis musst du entwickeln, und dafür musst duauch etwas tun.« Das ist ein eklatanter Kontrast zur gängigen, unausgesprochenen Ansicht innerhalb der Kirche, dass Kunst verstehbar und funktional sein soll und sich der Theologie unterzuordnen habe. Stattdessen soll die freie Kunst den Menschen ganz zum Authentischen hin öffnen. Das kann sie aber nur, wenn sie selbst authentisch ist und keinen funktionalen Zweck verfolgt.

 Auf welche Weise hast du nun diesem Ort deinen persönlichen Stempel aufgeprägt?

Ich kam Anfang 2007 nach Sankt Peter, als die Orgelstelle erneut ausgeschrieben wurde, und fand mich dann in einer Situation, die es mir auf ideale Weise ermöglichte, zeitgenössische Musik zu machen. Meine Vorstellungen waren ganz anders als die von Bares: Der war zwar für die Kirchenmusik recht modern, aber innerhalb dieser Tradition war er noch stark kontrapunktisch geprägt, was ich schon auf eine gewisse Art als veraltet empfand. Außerdem konnte ich von Anfang an die Möglichkeiten der neuen Orgel nutzen, die seit 2002 installiert und 2004 geweiht wurde und explizit für zeitgenössische Musik konzipiert worden war.

Bares improvisierte nur, während ich mit neuen Einspielungen die Orgel auch anders nutzen wollte. Der Kölner Standort war von Vorteil, da ich 2008 den Deutschlandfunk mit ins Boot holen konnte. Damals haben wir festgestellt, dass die meisten Aufnahmen der neuen Orgelmusik um die 30 Jahre alt und sehr verstreut sind. Zudem störten mich die sehr begrenzten Instrumente vieler Aufnahmen. Für mich ist die Orgel von Sankt Peter demgegenüber eindeutig ein Novum, da man damit den Kompositionen mit Leichtigkeit große klangliche Flexibilität hinzufügen kann, weil die Orgel eine Menge neuer Möglichkeiten bietet. So begannen wir, das zeitgenössische Repertoire nach und nach neu aufzunehmen sowie aktuelle Komponisten für die Orgel zu begeistern.

Wenn jetzt vor Ort Stücke in Auftrag gegeben werden: Wie arbeiten die Komponisten dann angesichts dieses besonderen Instruments? Schauen sie sich die Disposition an oder schreiben sie einfach ihre Stücke und hoffen, dass du als erfahrener Organist die Register kreativ einsetzen wirst?

Die finanzielle Unterstützung vom Deutschlandfunk ermöglicht es uns seit sieben Jahren, im Rahmen der »orgel-mixturen« einen Composer-in-Residence zu wählen und ihm einen größeren Auftrag zu erteilen. Die unterschiedlichen Zugänge der Komponisten kann man nicht über einen Kamm scheren. Einige schauen sich das Instrument sehr genau an, andere hingegen verfolgen eine von der Orgel unabhängige Idee und übertragen sie dann auf das Instrument. So hat Péter Köszeghy 2009 mit UTOPIE XV »crystal« ein großes Klangstück komponiert, indem er zwar bestimmte technische Möglichkeiten des Instruments benutzte, ohne sie jedoch zwingend einzufordern. Samir Odeh-TamimisChoris Onoma von 2012 hatte eher den Charakter eines Orchesterstücks, das auf die Orgel übertragen wurde. Ganz anders arbeitete Martin Schüttler, der 2014 mit index [St. Peter] für Orgeln, Imitate, Zuspielungen, Raummarkierung und Handouts ein live-elektronisches Stück geschrieben hat: Er hat Einzeltöne abgenommen und verstimmt zugespielt sowie Aufnahmen des Kirchenraums eingebaut – also die Musik dezidiert auf den Ort abgestimmt. Ganz unterschiedlich ist auch meine Rolle, wobei die exakte Festlegung auf bestimmte Register meist dem Organisten überlassen wird.

Du hast vorhin davon gesprochen, dass die Orgel Klangfarben zur Verfügung stellt, die es bei anderen Instrumenten nicht gibt. Was bedeutet dies nun für die Erarbeitung von Klassikern wie beispielsweise Ligetis Volumina? Wie gehst du bei der Einstudierung solcher Werke vor und wie arbeitest die die klangfarblichen Möglichkeiten der Orgel ein?

Wenn man über Intepretation spricht, muss man sich darüber klar werden, was genau der Interpretationsansatz bei zeitgenössischer Musik sein soll. Grundsätzlich lässt sich mit der Orgel ja sehr kultiviert historisch informierte Aufführungspraxis erreichen: Wenn ich Bach spiele, suche ich mir eine historische Orgel aus dem frühen 18. Jahrhundert, wenn ich dagegen Reger spielen möchte, wähle ich eine Orgel vom Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts. Entsprechend wähle ich die Spieltechniken der Artikulation und Agogik. Aber wie ist das bei zeitgenössischer Musik? Wie kann man hier Aufführungspraxis verstehen? Wegen des neuartigen Umgangs mit dem musikalischen Material ist ein ganz anderes Vorgehen nötig. Die Orgel von Sankt Peter spielt einem dabei letztendlich in die Hände. Wenn ich mit den Schlagwerk-Registern oder mit bunten Farben Bach spiele, dann wirkt das irgendwie aufgesetzt. Die besondere Klangfarbe nützt der Musik nichts. Nehme ich dagegen ein Orgelstück von Wolfgang Rihm aus der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und spiele es mit den besonderen Registern, hat man auf einmal das Gefühl, dass die Zwischenstufen zwischen Geräusch und Ton und die Farbvielfalt mit den Tonhöhen korrespondieren. Die unterschiedlichen Kolorierungen, die Möglichkeiten, mit der Winddrossel umzugehen oder mithilfe des Schlagzeugs den Geräuschanteil zu erhöhen: All diese Dinge bilden die Voraussetzung, um zu einer gewissen Authentizität in der Interpretation zeitgenössischer Musik zu gelangen. Es ist ähnlich wie bei Helmuts Lachenmanns »musique concrète instrumentale«, wo das Geräusch emanzipiert und zum Bestandteil der Musik gemacht wird: Die Idee deckt sich mit einer Orgel, die mit Schlagwerk oder mit Winddruckschwankungen die Musik fluide und variabel macht.

Kannst du mir hierfür ein Beispiel geben?

Es ist auf der Orgel generell schwierig von Standards auszugehen. Die einen sind puristisch und sagen: »In den Noten steht Prinzipal 8-Fuß«, und ziehen dann dieses Register, andere erlauben sich eine größere Freiheit. Mein Zugang dagegen ist ein anderer – ich treibe der Orgel ihre Starre aus: »Wenn ich doch jetzt hier variabel diese Akkorde gestalten kann, mit unterschiedlichen Klängen, warum mache ich das dann nicht?« Ich gehe also wie ein Komponist an das Material heran und kann Dinge leisten, die der Komponist selbst nicht beachtet hat, weil sie auf der Orgel, für die er sie geschrieben hat, nicht möglich waren. Ich überlege also, was ich hinzufügen kann, um das auszuarbeiten, was der Komponist vielleicht nur in Ansätzen ausgedrückt hat, wenn er z. B. bestimmte Register in die Noten schrieb. Die Unbeweglichkeit der Orgel hat schon Schönberg und Ligeti gestört. Ligeti nennt die Orgel wegen ihren eingeschränkten Möglichkeiten der Flexibilisierung des Klanges eine Prothese. Es gibt von ihm einen Aufsatz über die Zukunft der Orgel, in dem er Dinge einfordert, die dann so ähnlich in Sankt Peter realisiert wurden, etwa verschiedene Schwellwerke für einzelne Werkgruppen sowie glockenähnliche, metallische Klänge, aber auch eine variable Windsteuerung. Ligeti war diesbezüglich ein fantastischer Visionär. Seine Vision einer Orgel der Zukunft fordert einen neuen interpretatorischen Ansatz, der sich den reichhaltigen Möglichkeiten einer Orgel für Neue Musik stellt.